Montag, 6. Februar 2017

Kuleschow-Effekt



Die Entdeckung des Kuleshov-Effektes zeigte die enorme Bedeutung der Filmmontage im frühen 20. Jahrhundert.  „Pure Cinema“ bezeichnete es Hitchcock, bei seinen eigenen Werken. Es beschreibt die veränderbare Meinung des Publikums durch kreatives Nutzen der Montage. Die Meinung des Zuschauers – über eine gewisse Situation oder Emotion – entwickelt sich dabei durch die Montagetechnik. Jedoch war die Herangehensweise von Hitchcock auf die darauffolgende Reaktion des Darstellers bezogen. Das heißt, während die Basis – der Kuleshov-Effekt – mit einem neutralen oder emotionslosen Gesichtsausdruck arbeitet, beschäftigt sich „pure cinema“ mit einer gezielten Rückmeldung. Freude, Furcht, Erregung, Neugier etc. Das heißt, der Zuschauer bekommt durch die Montage und durch die Reaktion des Schauspielers eine autosuggestive Antwort, welche einen klaren Eindruck hinterlassen soll.

Hitchcock über Pure Cinema

Lev Kuleshov (1899-1970), auch bekannt als Vater der sowjetischen Filmmontage entdeckte 1918 den – für uns gleichnamigen – Kuleshov-Effekt, welcher das Handwerk der Filmmontage revolutionierte. Das seit je her bekannte Beispiel vom Schauspieler Ivan Mozzhunkhin, welcher mit einem neutralen Gesichtsausdruck in die Kamera blickt, funktioniert auch heute noch mit derselben Intensität bei der aktuellen Filmmontage. Innerhalb des Schnittes wird auf den neutralen, emotionslosen Gesichtsausdruck ein spezifisches Objekt oder Segment entgegengeschnitten, welches der Zuschauer direkt assoziieren kann. Am Beispiel Kuleshovs wurde zum nüchternen Ausdruck von Mozzhunkhin einmal eine Suppe, eine tote Frau (Mädchen) im Sarg und ein spielendes Kind jeweils geschnitten. Dementsprechend erkennt der Zuschauer die Vernetzung zwischen Schauspieler und den darauffolgenden Themen. Im Zusammenhang mit der Frau im Sarg empfindet der Zuschauer die Trauer des Darstellers. Beim spielenden Kind, empfindet man elterliche Wonne. Bei der Suppe interpretiert man, dass die gefilmte Person hungrig ist. Alles sind Interpretationen von demselben Gesichtsausdruck. Die Entdeckung von Kuleshov war nicht nur bahnbrechend, sie fand auch parallel zu vielen anderen Entdeckungen und Durchbrüchen in der „goldenen Ära“ der Sowjetunion statt.

„Soviet Montage cinema emerged with strong popularity during the 1920’s in Russia—featuring an approach to understanding and creating cinema that relies heavily upon editing, the experiments Kuleshov completed were integral to the development and success of this cinematic movement.” (Pietra T. Bruni – S.13)

Der Kuleshov-Effekt wurde im späteren Abschnitt seiner Entdeckung weiterentwickelt. Der Effekt bleibt vergleichbar, jedoch ist diese Erweiterung der Montage nicht auf Emotionen, sondern auf rein optische Mittel beschränkt. Lev Kuleshov schrieb in seinem ersten Buch – In Art Of The Cinema – darüber, dass man eine einzige Frau abbilden kann, indem man vorher vier verschiedene Körperregionen von anderen Frauen abfilmt. Ergo, die Lippen von der ersten, die Beine von der zweiten usw. Diese Technik innerhalb der Filmmontage war nicht nur ein erfolgreiches Experiment, sondern gleichzeitig ein Richtfaden für zukünftige Filmemacher und Werbeinstitute. Heute noch wird „der perfekte Körper“ zuerst aus Close-ups imaginär montiert und letzten Endes komplett aufgelöst dargestellt. Oftmals erkennen wir auch am Schluss den kompletten Körper nicht, da die dargestellte Person so überhaupt nicht existiert.

Zu Werbezwecken ist diese Weiterentwicklung des Kuleshov-Effektes durchaus effizient. Der Faden lässt sich dabei in jede Richtung weiterspinnen. Geht man davon aus, dass in der obig beschriebenen Werbung man zuerst die sich öffnenden Lippen sieht, darauf schneidet man eine sich öffnende Hand und letztendlich sich öffnende Augen. Beim Betrachten wird nicht nur die Neugier erweckt, was die Person gerade erblickt, sondern warum sie so überdeutlich auf etwas Bestimmtes reagiert. In der endgültigen Auflösung wird die Person entweder vollkommen aufgedeckt oder mindestens das Produkt, um welches es sich im Spot handelt. Die Assoziation beim Zuschauer funktioniert. Interesse, Erregung, Perfektion, Neugier. Der Kuleshov-Effekt an sich gilt hierbei nicht als gezwungene Voraussetzung der Montage, jedoch findet man seine Anwendung in heutigen Filmen, aller Art wieder und wieder. Wobei der Effekt und seine Auswirkungen erhalten geblieben sind.

Detailreiche Erklärung von Michael Sullivan mit einigen Beispielen.

In den frühen 20. Jahrhundert galt offensichtlich ein bewegtes Bild, wie auch das unbewegte Bild als in sich schlüssig und konkret. Durch die Entdeckung dieses besonderen Montageeffektes kam es zur filmischen Revolution, da deutlich gezeigt werden konnte, dass die „Wahrheit“, welche ein Filmmedium vermitteln kann, durch die Abfolge des Schnittes und deren bildsprachlichen Inhalte gestreckt, verändert oder gar manipuliert werden kann.

Durch die politische Situation der Sowjetunion, war es zu jener Zeit relativ schwer, eigene Filme zu produzieren, da Filmrollen oder gar die Mittel des Filmeschaffens teuer waren. Einflüsse hierbei waren die Weltkriege, Oktoberrevolution  usw. Lev Kuleshov besuchte zu jener Zeit das welterste Filmschul-Institution in Moskau. Gerade wegen der politisch prekären Lage erschien es paradox, dass 1920 Kuleshov an einer solchen Institution mit seiner Arbeit als Instruktor begann. An einer Schule ohne eigenes Filmmaterial. Das erklärt, weshalb beim weltbekannten Muster des Kuleshov-Effektes Kopien von anderen Filmen vorliegen. Die Entdeckungen von Kuleshov entstanden also aus nicht eigenen Aufnahmen, sondern aus experimenteller Auseinandersetzung mit bereits vorhandenem Material. Quasi ein Zufallsprodukt durch Found Footage.

„The “Kuleshov Eect” experiment, sometimes also known as the “Mozzhukhin experiment”, is the canonical example of lm montage […] despite this experiment being the one for which Kuleshov is best remembered […], Kuleshov himself actually regarded his other montage experiments as being more signicant. I think that the experiments carried out subsequently in collaboration with my students were much more interesting’ (Kuleshov 1973:70). […] the Kuleshov Effect experiment: the lm footage itself no longer survives, yet stills are sometimes published purporting to be from Kuleshov’s actual experiment; it is often claimed that the lm was shown to a random audience and their reactions scientically observed, yet it has also been suggested that Kuleshov […] watched it with just a few colleagues who gave their opinion as to its eect on them.“ (Michael Russel – S.114)

Nach einer Studie von Pietra T. Bruni, bei welcher der Kuleshov-Effekt erneut untersucht wurde, stellte man fest, dass auch heute noch, unabhängig vom Geschlecht, einem neutralem Gesichtsausdruck bestimmte Emotionen zugeordnet werden können, entsprechend des entgegenmontierten Clips.

“For example, after viewing the stimulus-actor pairing clip pulling for enjoyment, most participants ranked the neutral-faced actor as expressing a high level of neutrality on his/her face. However, the second highest-ranked emotion participants felt the actor exhibited was enjoyment, significantly higher than sadness, neutrality, aggression, and sexual arousal. This same pattern can be seen when examining each clip, making the observed effect more nuanced.”

Wie bereits erwähnt, lässt sich der Kuleshov-Effekt als Basic der Filmmontage definieren, welcher interpretativ und praktisch angewandt, endlos weiterentwickelt werden kann.

Das meist abgerufene Beispiel im Internet

Das angebliche Original



Quellen:

Soviet Montage Cinema as Propaganda and Political Rhetoric by Michael Russel – Doctor of Philosophy. The University of Edinburgh 2009.

Re-Examining the Kuleshov Effect by Pietra T. Bruni – Bachelor of Science. University of Pittsburgh, 2015.

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